Fachtagung 2009

„Sex sells ...?! Menschenhandel und die Medien“

Ort: München, Datum: 5. März 2009

Aus der Einladung zur Fachtagung

Das Thema „Menschenhandel und Zwangsprostitution“ ist in den Medien angekommen. Berichtet wird regelmäßiger und weniger schlagwortartig. Immer mehr Menschen wissen über diese Verbrechen Bescheid. Und zwar nicht nur bei uns in Deutschland, sondern in ganz Westeuropa und in den Herkunftsländern der gehandelten Frauen in Osteuropa. Das ist auch das Verdienst der Journalisten und Medienvertreter.

Reaktionen wie vor 10 Jahren: „Ach was, Zwangsprostituierte – so ein Quatsch, das machen die doch freiwillig“, gibt es kaum noch. Welcher Art ist diese Berichterstattung? Geht die Herangehensweise der Journalisten genügend deutlich auf die Menschenrechtsverletzungen ein? Oder zählt letztlich doch nur immer wieder: „Sex sells“? Denn nicht selten bedienen die Medien immer noch den Voyeurismus der Leser, Hörer und Zuschauer.


2009: Fakten und Forderungen – Medienethische Aspekte bei der Berichterstattung über Frauenhandel

Prof. Dr. Rüdiger Funiok SJ, Hochschule für Philosophie München, „Netzwerk Medienethik“

Einleitende Bemerkung:

Die 7 „Fakten“ oder „Befunde“ zur Presseberichterstattung über Zwangsprostitution/Frauenhandel habe ich aus 4 Quellen erhoben:

  1. Elektronisches Archiv von Artikeln der FAZ, SZ, SPIEGEL, BILD, AZ (ab 2000)
  2. Sichtung der Mappen „Prostitution in München/Bayern“ und„Menschenhandel“ im Ausschnitt-Archiv einer Münchner Boulevardzeitung
  3. Experten-Interview mit einem langjährigen Redakteur dieser Boulevardzeitung
  4. Einer Recherche im Archiv des Deutschen Presserats nach Beschwerden zu unserem Thema.

Ich werde den 7 Fakten oder Befunden jeweils eine „medienethische Forderung“ folgen lassen – wohl wissend, dass ich damit ein Ideal umschreibe. Ethik stellt sich oft gegen den Trend, fordert zu Anstrengungen gegen die Routine auf, verhält sich „kontrafaktisch“ wie Habermas sagt.

Befund Nr. 1: Es wird meist anlass-bezogen berichtet, in etablierten Rubriken wie

• Polizeiberichten
• Prozess-Reportagen
• Pressekonferenzen von Hilfsorganisationen (vor Fußball-WM)
• Berichten von Tagungen wie dieser (in SZ)
• Größeren Sozial-Reportagen (z. B. SZ, Seite 3)
• Serien über Rotlicht-Milieu im Boulevard („Sex in the City“, „St. Pauli-Report“, „So verSEXelt Opa seine Rente“)

Die Berichterstattung ist meist anlass-bezogen, z. B. bei den Gerichtsreportagen. Die Lokalredaktion entscheidet, welche Prozesse (mit welchen Themen) ausgewählt werden. Wie später noch deutlich wird, ist das Thema Zwangsprostitution/Frauenhandel ein schwieriges Thema, das eher vermieden wird. Wenn das Thema jedoch – auch durch Berichte der Konkurrenzblätter – „auf dem Tisch“ ist, dann wird es auf jeden Fall aufgegriffen.

Forderung Nr. 1: Menschenrechtsverletzungen sollten Journalisten auch bei Routine-Anlässen aufhorchen lassen

Befund Nr. 2: Sex-Serien sind im Boulevard seltener geworden – das Internet bietet Deftigeres

Auskunft des Redakteurs: „Sex-Serien sind quantitativ deutlich zurückgegangen. Früher versuchte ein Boulevard-Blatt mit diesen Serien und mit Gewinnspielen die Auflage kurzfristig zu steigern. Dies geschah vor allem in den Zählquartalen des Jahres, in denen die Auflagenstärke gemessen wird. Diese Serien werden dem Blatt meist von freien Journalisten angeboten – mit einem „Augenzwinkern“, man kenne sich im Rotlicht-Milieu aus, habe Insider- Kenntnisse. Diese Serien sind nur locker anlass-gebunden (z. B. wenn es Auseinandersetzungen im Stadtrat über den Sperrbezirk gab).

Heute finden die daran interessierten (männlichen) Leser im Internet ein leichter erreichbares und deftigeres Angebot. In den – am bürgerlichen Milieu – orientierten Zeitungen wurde ja meist mit dem Thema nur gelockt, aber man sah und erfuhr ja nichts deutlich Pornographisches. Unter der Überschrift „Sexbeichte der Geliebten eines Ministers“, bekam man nichts wirklich Bewegendes zu lesen. Das Thema Zwangsprostitution interessiert in solchen Sex- Serien nicht wirklich, bleibt naturgemäß untergeordnet

Forderung Nr. 2: Nicht nur die Freier-Prominenz sollte ein Nachrichtenfaktor sein, sondern auch die Verletzung von Menschenrechten

Befund Nr. 3: Zwangsprostitution/Frauenhandel ist Thema in nur 10 % der Artikel über Prostitution und Menschenhandel

Die Auswertung des elektronischen Zeitungsarchivs ergab: In seriösen Medien sind es 4 % (SPIEGEL) bis 12 % (SZ) In Boulevardmedien 5 % (BILD) bis 14 % (AZ)

Die Auswertung des elektronischen Zeitungsarchivs ergab: In seriösen Medien sind es 4 % (SPIEGEL) bis 12 % (SZ) In Boulevardmedien 5 % (BILD) bis 14 % (AZ) Die Auswertung des Ausschnitts-Archivs zeigte: Die anderen 90% der Berichte betreffen bei „Prostitution“ (allgemeine) Aspekte wie:

• Rotlicht-Milieu rüstet sich für die Wiesn
• Wunsch der Freier/Zwang der Zuhälter zu Sex ohne Kondome
• Datenschutzverletzung und Expressung: Versteckte Kamera auf Bett gerichtet
• Polizeiaktionen und Gerichtsprozesse gegen „Wellness-Centers“ (Collosseum in Augsburg)
• Prostituierte (nach Alkohol- und Drogenvergiftung) tot aufgefunden
• Freier getötet
• Lebens-Rückblick einer Prostituierten, die Buch geschrieben
• Erstaunliches: Bordell spendet zu Weihnachten für Altersheim

Die selteneren Hinweise auf Beratungsstellen gehen da fast unter. Während bei Unglücken, Gewalttaten und Katastrophen die Opfer vor einem Zuviel an Medienaufmerksamkeit geschützt werden müssen, werden hier die Frauen seltener als Opfer sichtbar, sondern nur als (normale) Prostituierte. In der Mappe „Menschenhandel“ betrafen die anderen 90 % Themen wie:

• Niedrigste Stundenlöhne und Zwang bei Putzpersonal, Bedienungen, Land-Arbeitern
• Verkauf von Kindern zum Zweck der Adoption, auch auf E-bay
• Historische Vorläufer von (ausbeuterischer) Kinderarbeit (Film „Schwabenkinder“ von Jo Baier)
• Wie Schleuser Menschen verstecken
• Personen ersticken beim Schleuser-Transport in Verstecken auf Schiffen, im LKW
• Berichte über Visa-Vergehen
• Wie das Auswärtige Amt die Einreise erleichterte (Untersuchungsausschuss)
• Sklavenschiff in Benin, Beteiligung eines in D. spielenden Fußballers • Mann verleiht seine Frau an Nachbarn für Sex.

Ein gelegentlicher Bericht über Folterungen von Zwangsprostituierten geht da fast unter…

Forderung Nr. 3: Ein menschenrechts-sensibler Journalismus sollte dieser „Verflüchtigung“ entgegenarbeiten: mit eigenen Recherchen, Hintergrundberichten

Befund Nr. 4: Zwangsprostitution/Frauenhandel ist ein emotional schwieriges Thema

Vor allem für die Boulevard-Zeitungen handelt es sich, wie der Redakteur ausführte, um ein schwieriges Thema:

– Man kann schwer eine emotionale Beziehung zum Opfer aufbauen und dem Leser zur Lösung der Spannung eine Spendenmöglichkeit nennen – wie es v. a. vor Weihnachten der Fall ist. Nach dem Motto: „Dieses Schicksal ist ungeheuer traurig – aber Sie können helfen“. Das ist eine gern angenommene Gratifikation. Dieser Lösungsbogen kann bei Berichten über Frauenhandel nicht immer angegeben werden.

– Durch die Leidensdimension ist Zwangsprostitution kein „sexy“ Thema im Sinne von Spass daran haben, im Sinne des Weckens von „Gelüsten“.

– Die Opferrolle der Frauen ist durch ihre (zwar aufgezwungene, aber eben doch ausgeübte) Tätigkeit als „Huren“ nicht eindeutig genug. Man ist als Leser unbewusst irritiert und fragt sich: Warum wehren sich diese Frauen nicht, warum gehen sie nicht zur Polizei?

– Große Zahlen sagen nicht so viel wie eine einzelne Person, eine Biographie, mit einem herzeigbaren Gesicht. Das ist bei den Opfern von Zwangsprostitution aber selten machbar; ein Kopf von hinten wird in einer Boulevard-Zeitung nicht abgedruckt.

– Detaillierte, sich mit einer Frau beschäftigende Darstellungen verbieten sich oft aus Gründen des Datenschutzes – Frauen sind in Opferschutzprogrammen. Werden sie interviewt, so kann das ihr Leiden neu aufwühlen; Interviews sind also erst ab einem bestimmten Stand der Therapie möglich.

– Wenn man die Ausgangslage der Frauen (Alkoholismus in der Familie – desolate wirtschaftliche Lage) und ihren Weg nach Westeuropa nachzeichnet, ergibt sich oft ein komplexes Bild, in dem manche Böse auch Gute sind (die Puffmutter als „Trösterin“).

Forderung Nr. 4: Gelungene Berichte (aus der Sicht der Opfer und ihrer Hilfsorganisationen) sollten durch Journalisten- Preise herausgestellt werden

Die oben aufgezählten Schwierigkeiten sind echte Erschwernisse. Aber es gibt Beispiele, wie man sie überwindet. Auch wenn die hier vertretenen Hilfsorganisationen nicht das Geld haben, einen eigenen Preis zu stiften, könnten sie einigen Juries der vielen (ca. 150) Journalisten-Preise Vorschläge machen und auf gelungene Berichte aufmerksam machen.

Befund Nr. 5: Stereotype Bebilderung, oft ohne Hinweis auf Zwang und Folter

Neben der Überschrift sind es die Fotos, die Aufmerksamkeit auf den Bericht lenken. Solche „Appetizer“ brauchen die gedruckten längeren Berichte. In verstärktem Maße sind auch Online-Ausgaben darauf angewiesen, die ihrer Überschrift jeweils ein kleines Bild beigeben; diese Bilder sollen zum nächsten Klick führen. In der Foto-Auswahl werden dabei allgemeine Bild-Stereotype aus dem Rotlichtmilieu hergenommen, die den Aspekt der Entführung und des Zwangs zur Prostitution nicht darstellen. Das gilt für den positiven Fall, dass die Zeitung die Zwangsprostitution als ein Verbrechen darstellt und missbilligt. Es kommt allerdings (bei Boulevardzeitungen) vor, dass das Thema zu einer reinen „Sex-Story“ instrumentalisiert wird. Dieser Missbrauch des Themas führte im Jahr 2000 zu einer Beschwerde beim Presserat; er reagierte mit einer Missbilligung (B 107-184- 00) – meiner Recherche nach der einzige Fall der letzten Jahre.

Eine Boulevardzeitung hatte auf ihrer Titelseite über die jüngste Hure der Stadt berichtet, deren Zuhälter jetzt vor Gericht stehe. Im Alter von 14 Jahren sei das Mädchen von dem Mann gezwungen worden, in einem Bordell zu arbeiten. Dem Text beigestellt waren einige Fotos. Zwei davon zeigten die Betroffene halbnackt im Bordell. Heute sehe das Mädchen aus wie eine normale junge Frau, schrieb das Blatt zu einem aktuellen Foto der nun 18-Jährigen. Auf den Fotos ist die Augenpartie der Betroffenen jeweils abgedeckt. Zwei Rechtsanwälte reichten Beschwerde beim Deutschen Presserat ein, ebenso ein Verein Notruf und Beratung für vergewaltigte Frauen. Der um Stellungnahme aufgeforderte Verlag ließ durch seine Rechtsabteilung erklären, das betroffene Mädchen habe in die Veröffentlichung eingewilligt. Es habe auch sämtliche Fotos zur Verfügung gestellt.

Der Presserat kritisierte die Veröffentlichung der vier Jahre alten Nacktfotos der heute 18-jährigen jungen Frau. Er beanstandete außerdem die Formulierungen „Lolita-Mündchen“ und „junge, pralle Brüste“ in der Bildunterzeile. Durch diese Darstellung werde das minderjährige Opfer eines Verbrechens als Pin-up-Girl der Seite 1 instrumentalisiert. Die Art und Weise, in der die Zeitung über eine Gerichtsverhandlung berichtet, beschädige das Ansehen der Presse. Das Gremium sah darin einen Verstoß gegen Ziffer 6 des Pressekodex, in dem jede in der Presse tätige Person aufgefordert wird, das Ansehen und die Glaubwürdigkeit der Presse zu wahren. Aus dem Missbrauch eines 14-jährigen Mädchens wird eine sexistische Story, die dem eigentlichen Thema der Berichterstattung nicht gerecht wird. Die Schlagzeile, die von der „jüngsten Hure“ der Stadt spricht, lässt bei den Leserinnen und Leser zudem den irreführenden Eindruck entstehen, es handele sich um einen aktuellen Fall. Insofern liegt hier auch ein Verstoß gegen die in Ziffer 2 des Pressekodex definierte journalistische Sorgfaltspflicht vor. Das Persönlichkeitsrecht der Betroffenen sah das Gremium jedoch nicht verletzt, da sie nicht identifizierbar wurde. Der Presserat erklärte die Beschwerden insgesamt für begründet und tadelte die Zeitung mit einer Missbilligung – also einer mittelstarken, aber öffentlichen Form von Kritik.

Forderung Nr. 5: Suche nach entsprechenden Symbol-Fotos

Ein um Differenzierung bemühter Journalismus sollte nach Fotos, die diesen Aspekt repräsentieren, suchen. Die Lösung könnte im Bereitstellen von „Symbol-Fotos“ (mit dem Hinweis „nachgestellt“) durch die Hilfsorganisationen liegen, in Zusammenarbeit mit den Bildagenturen.

Befund Nr. 6: Widerspruch zwischen redaktionellem Berichtund Werbe-Abdrucken

Es besteht (auch bei seriösen) Tageszeitungen ein Widerspruch zwischen der problematisierenden Berichterstattung über das Thema im redaktionellen Teil und dem Abdruck der Kleinanzeigen (Kontaktadressen), hinter denen eben auch Zwangsprostitution steht. Die Gründe dafür: Gerade in wirtschaftlich angespannten Zeiten sind die Zeitungen auf Einnahmen aus diesen Anzeigen angewiesen. Zeitungen leben von den Anzeigen, nicht vom Erlös der verkauften Exemplare. Daher wird kein Verleger eine Anzeige ablehnen; bei früheren Verleger-Persönlichkeiten gab es das vereinzelt, aber heute kaum mehr. Sicher beschweren sich manche Leser über den seitenweisen Abdruck von Kontakt-Anzeigen im Blatt; aber der Verlag nimmt diesen Protest in Kauf – er wiegt weniger als der Verlust der Einnahmen durch den Anzeigen-Abdruck.

Forderung Nr. 6: Die Zwangssituation gelegentlich in einem Editorial erläutern.

Ein Verzicht auf Einnahmen aus der Werbung, aus ethischen Gründen, ist nur im krassen Einzelfall möglich – beim Versuch, kritische Berichte zu verhindern. Aber eine gelegentliche Erläuterung der Zwangssituation, in welcher der Verlag steckt, wäre angemessen.

Befund Nr. 7: Rechtliche Absicherung vorrangig vor Opferperspektive

Man hat Respekt vor dem Klagepotential der mit Anwälten ausgestatteten Zuhälter und Menschenhändler-Ringe. Aus dieser Absicherung heraus wird bei Berichten eher gefragt „Bekommen wir mit dem Bericht Ärger“ als danach, ob man mit dem Bericht dem Opfer etwas antut, seine gesellschaftliche Position (Würde) beeinträchtigt – oder für deren Verletzung zu aller erst öffentliches Interesse herstellt.

Forderung Nr. 7: Menschenrechtsverletzungen sollten einen mutigen, an medienethischen Erwägungen orientierten Journalismus herauslocken.

Zusammenfassung (der 7 Forderungen):

• Menschenrechtsverletzungen sollten Journalisten auch bei Routine-Anlässen aufhorchen lassen
• Nicht nur die Freier-Prominenz ist Nachrichtenfaktor, sondern auch die Verletzung von Menschenrechten
• Menschenrechts-sensibler Journalismus erfordert eigene Recherchen und Hintergrundberichte
• Gelungene Berichte durch Journalisten-Preise herausstellen
• Suche nach entsprechenden Symbol-Fotos
• Verlagsleitung soll die Zwangssituation in einem Editorial erläutern